Liquid/Havanna (autoassistente)
Ulla Bergens / Peer Cryog, Lander Burton, Sebastian Dacey, Michael Dobrindt, Daniel Domig, Sibylla Dumke, Markus Hahn, Jitka Hanzlová, Luisa Kasalicky, Björn Kämmerer, Tony Sunder, Alexi Tsioris, Anna Zwingl
Organisiert von Michael Dobrindt und Markus Hahn
Manifesto: Fragmentierter Widerstand, Konkurrenz im Raum, Formen räumlicher Gewalt, Soft Skills. Genau an dieser Stelle halten wir einen Wandel in der Politik der Räume und
im globalen, fundamentalistisch soziokulturellen Projekt der Bilder und des Materials für unumgänglich, um eine neu verhandelte Perspektive, ein visuelles (Un-)Gleichgewicht zu
erreichen. Diese Veränderung sollte mit einer Verschiebung von Handlungsfähigkeiten beginnen. Wir reisen in unser inneres Studio. Aus Gewohnheit beginnen wir, alles suspekt zu finden, was noch eine präzise Form hat. Etwas Schlichtes, In-times, Dringliches könnte oberste Instanz sein. Filme können in der Vergangenheit, in der Gegenwart oder in der
Zukunft spielen. Wenn wir Raum sagen, dann meinen wir genau:
– Hysterie
– Diagnose
– Dass ein Raum niemals als Mittel zum Zweck für ein Kollektiv oder eine andere Person genommen werden kann.
Dass ein Raum bloß eine Regierung im Rohzustand ist. Eine uneingeschränkte Weigerung ist die einzig fassbare politische Macht des Moments. […]
Michael Dobrindt und Markus Hahn – beide sind in den klassischen abbildenden Verfahren der Malerei und Bildhauerei ausgebildet – hegen Misstrauen gegenüber der „monolithischen“ Präsentation singulärer künstlerischer Arbeiten. Sie haben in den vergangenen Jahren – unter anderem gemeinsam mit Anna Zwingl – unter verschiedenen Namen wie Sweat Room, Magicgruppe Kulturobjekt, die Arbeit des Materials,
villa offdeutschland, flagship poly-vip usw. eine „kollektive“ Arbeitsweise entwickelt, die dem Zusammenführen verschiedener skulpturaler Handlungen und Materialien unterschiedlicher Kontexte verbunden ist.
Auch der Kunstpavillon wurde mit einem Ensemble an Dingen, Kunstwerken, Alltagsgegenständen, Fundstücken aus dem Keller der Galerie, schicken BMW-Alufelgen, Texten – in Buchform oder von den Teilnehmer_innen selbst oder von computergenerierten Stimmen eingelesen – angereichert. Anna Zwingl, Markus Hahn und Michael Dobrindt sprachen von Aneignung und vom Versuch der Herstellung einer Ordnungsform und trafen in situ formgebende Entscheidungen, loteten die Leserichtung des Raumes aus. Dialoge entstanden, indem die unterschiedlichen Komponenten in Beziehung zueinander gesetzt wurden. Überlappungen und Gleichzeitigkeit überstrahlten singuläre Bedeutungen.
Besuchte man die Seite zu Liquid/Havanna (autoassistente) auf der Homepage der Tiroler Künstler*schaft, wurde deutlich, dass sie als Teil des Raumes wahrgenommen wurde. Neben dem oben auszugsweise zitierten Manifest, das als Audiofile abrufbar war, fand sich ein ausgesprochen populärer Alltagsbericht eines vermutlich männlichen, nicht näher definierten Ich-Erzählers darauf, in dem es um Autos, Fastfood, Techno und Drogen ging. Zudem konnte hier eine Vielzahl von youTube- Links abgerufen werden: beleuchtete BMW-Felgen, Amazing Places on Our Planet – eine mittelalterliche Höhlenkirche in Äthiopien, ein Interview über das Buch The Words of the Father mit dem Psychotherapeuten J. L. Moreno von 1963, ein Freestyle Dance in Plastikbadeschlappen, World’s Most Bizarre Cows – über eine extrem bemuskelte belgische Rinderrasse, aber auch eine 4:20 Minuten dauernde Diashow mit Werken von Ernst Ludwig Kirchner, unterlegt mit pathetischem, an kommerzielle Filmmusik erinnerndem Sound. Weiter ging es mit einem Trailer zum Film 9 to 5: Days in Porn von 2008 und einem Interview mit dem Soziologen Hartmut Rosa, der über die „Entfesselung der Technik“ sprach und konstatierte, dass wir immer wieder auf die Versprechen der Technik, die sich oft verselbständigt, hineinfallen. Bei jeder neuen Errungenschaft – seien es Computer oder Mobiltelefone – herrsche zuerst Skep- sis vor. Nach dem „Sündenfall“ glauben wir, dass wir die Technik souverän nutzen können, und an die Erweiterung unseres Erfahrungshorizontes, bis wir zu ihren Sklaven werden und gleichzeitig telefonieren, auf Facebook sind und 17 weitere Homepages geöffnet haben.
So wurde auch der Raum des Kunstpavillons verwendet: als wären auf drei Bildschirmen gleichzeitig unzählige Tags geöffnet, die scheinbar in keinem Sinnzusammenhang zueinander standen. Bei näherer Betrachtung gab es jedoch zwei Erzähl- stränge, die nur vermeintlich nichts miteinander zu tun hatten:
die Hightech-Highend-Produktionswelt von BMW mit ihren vollautomatischen Produktionsstraßen, dem ausgeklügelten Zubehör und dem perfekten Marketing, das sogar für die Far- ben der Speziallackierungen die poetischsten Namen ersinnt und sofort Wunschvorstellungen evoziert, und das Interesse an aktueller Kunstproduktion mit Fokus auf die Malerei, in der ähnliche Mechanismen an Projektion von Begehrlichkeit virulent sind. Klassische malerische Fragestellungen nach Bildfindung und -aufbau wurden mit anderen Produktionsabläufen verglichen. Ist das „Wissen der malenden Hand“ nicht auch ein automatisierter Prozess, ein spezieller, mitunter tranceartiger Zustand?
Beispielsweise sieht Tony Sunder Textproduktion als Erweiterung seiner Malerei. In seinem Text beschrieb er Bildkonstruktion und die Arbeitsbedingungen am TV-Filmset. Daniel Domigs Hinterglasmalerei mit ihrer spiegelnden, leicht matten Oberfläche erinnerte an einen Bildschirm. Anna Zwingl über- setzte Bewegungen, die auf Touchscreens gemacht werden, in den Raum und sampelte an Kalligrafie erinnernde Aquarelle mit Photoshoptools. Aus Luisa Kasalickys Gouache schienen uns Comicaugen anzublicken und wie eine Nebenbemerkung war in den linken unteren Bildrand in Rot der Duktus eines breiten Pinsels eingeschrieben. Auch auf dem in unmittelbarer Nähe befindlichen Bild auf einem Spiegel von Dobrindt und Hahn rief ein einziger Produktionsschritt, ein weniger als 10 Prozent der Fläche ausmachender gestischer Hieb mit der Malspachtel, „Malerei“ ab.
Fragen der Rationalisierung, (Selbst-)Optimierung und Automatisierung standen der Überfülle an Möglichkeiten gegen- über. Zum Glück gab es das Werbevideo für die Hapifork, eine vibrierende Gabel, die uns trotz des Überangebotes an Eindrücken und Dingen davon abhielt, zu schnell zu essen.