quote, unquote
Zita Oberwalder
„Denn hier, auf den Ebenen zwischen Alpen und Kattegat, dem Ärmelkanal und dem Ural öffnet jedes Berühren der Vergangenheit eine immer noch frische Wunde (…)“, aus: Ein deutsches Tagebuch, Stefan Chwin, Berlin, 2015
Ausgehend von einem Rechercheaufenthalt in Nordirland rund um das Hotel Europa in Belfast, das als das meistbombardierte Hotel der Welt bekannt ist, und auf den Spuren des alten und neuen Europa während einer Residency in Rom 2015/16 entwickelte Zita Oberwalder die Ausstellung quote, unquote. Das analoge Schwarz-Weiß-Fotoessay über Territorien, Nachbarschaften, Zwischenräume und Fluchtlinien wird durch Zitate und Tagebuchskizzen ergänzt und stellt Fragen nach dem Zusammenhang zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Wie gerne würde man vergessen, die Geschichte ausblenden und eine neue, weiße Seite aufschlagen. Diese Sehnsucht kennt jede/r. Jäh durchbrochen wird sie durch Vorkommnisse wie der Terroranschlag am 13. November 2015 in Paris. Auf der Piazza Farnese in Rom gedenken Menschen den Opfern und legen als Zeichen der Solidarität und Anteilnahme Blumen nieder. Immer ist man auch als Privatperson in das Weltgeschehen verstrickt.
„Die Ausstellung ist eine kleine Sammlung an Kurzgeschichten und einem langen Satz.“, beschreibt die Künstlerin das Basiskonzept für die Schau im Kunstpavillon. Vier Vitrinen, in denen neben den Labels mit den Beschreibungen der an den Wänden hängenden Fotografien, Skizzen – Handabzüge und Tagebuchnotizen –, weitere ungerahmte Fotos und Zitate gesammelt sind, stehen für die vier Erzählstränge und geben Hinweise auf die Assoziationsketten der Künstlerin: The garden of the blind, Hotel Europa, Der lange Satz und Nachbarschaften.
Im Kapitel The garden of the blind geht Zita Oberwalder von dem Bereich des botanischen Gartens in Rom aus, der für blinde und seheingeschränkte Menschen Beschriftungen in Braille anbietet. Tatsächlich dort entstandene Bilder werden mit solchen zusammengebracht, für die der Titel metaphorische Bedeutung hat. Auch formale Analogien spielen in der Zusammenstellung eine Rolle: Lichtflecken und die an Schneefelder erinnernde Gischt, die die faszinierenden Formationen der Basaltsäulen am „Giant´s Causeway“, dem Damm des Riesen, in Nordirland umspült, das Meer an leuchtendem Herbstlaub des Ginkobaums oder weiß gekalkte Baumstämme neben einem Stamm, der mit einer gepunkteten Banderole versehen ist. In der Vitrine begegnen wir hingegen fast schwarzen Fotoskizzen. Light up Moses sei an dieser Stelle hervorgehoben. Zita Oberwalder fotografiert nicht etwa die berühmte Statue Michelangelos, mit der sich auch Sigmund Freud während eines Romaufenthalts 1913 befasste, sondern den Münzautomaten, an dem man für die Beleuchtung des Meisterwerks bezahlen muss, was die Künstlerin offensichtlich nicht getan hat.
Das dem zweiten Kapitel namengebende Hotel Europa in Belfast kommt erst zum Schluss der Bilderreihe vor. Dass Zita Oberwalder zwar auf Reisen fotografiert, aber weit davon entfernt ist eine Reisefotografin zu sein, die sich auf der Suche nach Postkartenmotiven befindet, ist klar. Das Hotel Europa wird von ihr durch die Detailaufnahme am Flügel in der Lobby gleichsam beruhigt. Die Reflexionen der Deckenspots am Klavier und die an Kerzen gemahnenden Blumenvasen lassen fast an einen kontemplativen Ort denken. Hotel Europa ist eine durchaus politische Serie, die durch den Blick für das scheinbar Nebensächliche und das Dazwischen jenseits einer Nachrichtenästhetik Fragen über Grenzziehungen und Territorien aufwirft. Am 13. November 2015 fuhr die Künstlerin auf den Spuren von Pier Paolo Pasolini nach Ostia und dabei entstand die Fotografie eines jüngeren, dunkelhaarigen Mannes im Camouflage-Shirt, der an ein Geländer gelehnt aufs Meer blickt – ruhig, vielleicht sehnsuchtsvoll. Auf dem im Vordergrund des Bildes befindlichen Pfosten ist „DANGER“ auf einem bereits abgewitterten Schild zu lesen. Eine Ironie des Schicksals, dass am selben Tag bei dem Attentat auf den Pariser Konzertsaal Bataclan 150 Menschen starben? In der Vitrine ist unter anderem die Fotografie eines Latexabdrucks eines Unterarms im Gegenlicht zu sehen. Die künstliche, transluzente Hand scheint zu brennen. Sind durch christliche Ikonografie geprägte Assoziationen mit der Hand Gottes legitim?
Der lange Satz besteht aus sieben großformatigen Drucken auf Aludibond und einer fünfteiligen Serie kleinformatiger Vintage Prints mit dem Titel The photograph as a walker, die Zita Oberwalders künstlerische Herangehensweise beschreibt und zeigt, dass sie Orte buchstäblich im Gehen erkundet. Eine weiße Fahne weht im Wind, aus der Vogelperspektive betrachtet bewegen sich Menschen auf einem Mosaikfußboden um gedeckte Tafeln und eine wahrscheinlich temporäre Wand dockt an eine Kirche an. Letzteres Bild ist in Belfast entstanden und visualisiert für Zita Oberwalder den über fast 30 Jahre andauernden Konflikt zwischen Protestant_innen und Katholik_innen und die Unsicherheit darüber, wie lange der Friede hält. Aufmerksamen Ausstellungsbesucher_innen fällt auf, dass die Armenausspeisung, die immer am 25. Dezember in der Basilika Santa Maria in Trastevere (Rom) stattfindet, bereits in der Vitrine, die zur Hotel Europa-Serie gehört, thematisiert wurde. Die Künstlerin verstrickt die Geschichten ineinander, und so kommen beispielsweise auch Eisenkappel, ein Luftkurort an der kärntnerisch-slowenischen Grenze, und die Falltür, die das Oratorium mit der Bibliothek Vallicellana (Rom) verbindet, damit die Möglichkeit besteht die Musik auch im Lesesaal zu hören, in jeweils zwei Kapiteln des Fotoessays vor. Alle Fotos sind zwischen 2012 und 2016 entstanden. Einzig Dostojewski ist eine ältere Arbeit aus dem Jahr 2008. Das Foto des in Dresden erst 2006 im Beisein von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Präsident Vladimir Putin aufgestellten, eigenartig antiquiert anmutenden Denkmals hat Zita Oberwalder damals in Kombination mit einem Zitat von Henri Cartier-Bresson gezeigt: „Sehen bedeutet nicht identifizieren, sondern eindringen.“ Hier verwendet sie Dostojewski als Selbstzitat. quote, unquote, also „Zitat“ und „Zitatende“, ist auch der Titel der Ausstellung. Er transportiert gleichzeitig eine Möglichkeit wie auch eine Unmöglichkeit: die Möglichkeit durch Zitate die Aufmerksamkeit zu steigern, sie zur Untermauerung der eigenen Denkansätze zu verwenden beziehungsweise Zitate als Denkanstoß an den Beginn einer Geschichte zu stellen. „Quote“ und „unquote“ sind Wörter, die eigentlich nur in der gesprochenen Sprache Verwendung finden. Schriftlich werden sie durch Anführungszeichen ersetzt. Die Künstlerin verrät durch den Titel viel über ihre Methodik, den Umgang mit literarischen Zugängen und macht zugleich deutlich wie lückenhaft und subjektiv Geschichtsschreibung ist.
Im vierten Kapitel Nachbarschaften, das sich auf den Raum einer Vitrine beschränkt, kommt es zu einem Bruch. Zita Oberwalder, der die analoge Technik und das Schwarz-Weiß-Ausarbeiten in der Dunkelkammer so wichtig sind, weil für sie im Prozess ein Zeitfenster entsteht, greift zur kompakten Digitalkamera und schießt Farbfotos. Die islamistisch motivierten Attentate in Paris am 13. November 2015 hatten auch in Rom, dem Zentrum des Katholizismus, Auswirkungen und die Menschen standen unter Schock. Sie legten vor der französischen Botschaft auf der Piazza Farnese Blumen nieder und gedachten der Opfer. Um dieser Situation zu begegnen, griff die Künstlerin zum dokumentarischen Mittel der digitalen Farbfotografie. Neben einem Textzitat aus dem Buch „Räume, Orte, Grenzen: Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums“, Suhrkamp Verlag, 2005, S. 74f, von Markus Schroer, findet sich eine Arbeit ihres Nachbarn, des Künstlers E.d Gfrerer, mit dem Zita Oberwalder häufig zusammenarbeitet. Er reicht ihr und jetzt in der Ausstellung auch den Reziepient_innen durch den Spalt eines Klappfensters die Hand, die in althergebrachter Bedeutungsperspektive aufgeblasen wird. Steht das Zitieren des Werks des befreundeten Künstlers als Symbol für Zusammenhalt und Miteinander, um gemeinsam durch die Zeiten der Krise zu kommen?
Ingeborg Erhart