stones, too, feel
Mona Vătămanu, Florin Tudor
Das in Bukarest lebende Künstler_innenpaar Mona Vătămanu & Florin Tudor arbeitet seit 2000 an gemeinsamen Projekten, die sie unter anderem 2007 im Rumänischen Pavillon auf der Biennale di Venezia, im New Museum, New York, Centre Pompdiou, Paris oder auf der Shanghai Biennale 2014 präsentierten.
In ihren Installationen, Filmen im Stile künstlerischer Dokumentationen, performativen Gesten, ephemeren Handlungen und ortsbezogenen Interventionen operieren sie mit gegensätzlichen Elementen der Realität, materiellen und immateriellen. Sie stellen Fragen zu sozialen Umbrüchen, wirtschaftlichen Veränderungen und politischen Konflikten. Mona Vătămanu & Florin Tudor konfrontieren in ihren Arbeiten immer wieder das Erbe des Kommunismus in ihrer Heimat Rumänien und in Osteuropa mit der Politik von Erinnerung verdrängter und vergessener Geschichte. Dabei spielen Architekturen und Landschaften als Orte der Verwahrung sowohl persönlicher als auch kollektiver Erinnerung eine besondere Rolle. Die Herstellung von Verbindungen zu spezifischen ortsbezogenen Situationen wird dabei zu einem universellen Medium der Reflexion. In performativen Re-enactments oder symbolischen Rückgewinnungen geht es nicht nur um die Aufarbeitung verdrängter Geschichte, sondern immer auch um die veränderten Bedingungen der Gegenwart. Diese ist für die Künstlerin und den Künstler Voraussetzung, die gegenwärtige Gesellschaft verstehen zu können.
Die Ausstellung stones, too, feel in der Neuen Galerie ist um die Themen Migration, Imagination, Utopie und mögliche alternative Welten konzipiert: Verschiedene Narrative werden zu einem Geflecht symbolischer Assoziationen verwoben, die dem derzeitigen oligarchischen Imperialismus der globalisierten Welt entgegenstehen.
Der Titel stones, too, feel bezieht sich auf ihre neue Installation im vorderen Raum der Galerie. Ein Teil einer Eisenbahnschiene liegt auf einer Stoffmatte am Boden, daneben ein kleiner Hügel aus groben Steinen. Ein Objekt aus Zündhölzern und Wollfaden befindet sich in unmittelbarer Nähe und darüber hängen zwei kleine Malereien. Die Bilder stammen aus der Serie Appointment with History. Auf einem kann man verschwommen einen kleinen Jungen mit dunkler Hautfarbe erkennen, der vor Erschöpfung auf Eisenbahngleisen eingeschlafen ist. Ein Foto, das die Künstler_innen bei ihrer Recherchearbeit gefunden haben, inspirierte sie zu diesem Gemälde. Der Aussichtslosigkeit dieser Szene werden Metaphern für kindliches Spielen gegenübergestellt: zum einen die Steine, die auf der Schiene in der Galerie liegen, die Kinder im Spiel dort hingelegt haben könnten, und zum anderen das Objekt aus einfachen Wollfäden und Zündhölzern, das bei näherer Betrachtung sehr viel Ambivalenz birgt. Kann es mit Aggressivität assoziiert werden? Oder ist es als Symbol für kreative Handlungen zu verstehen, oder als Modell des Universums, bei dem wir alle Teil des Ganzen sind. Die Installation nimmt Bezug auf das Drama der aus ihrer Heimat vertriebenen Menschen und deren Kampf um ein neues Leben, auf diese „anderen“, die auftauchen im Nebel unserer Konsumkultur, der den Blick auf den globalen Zustand des permanenten Krieges verschleiert. Die Installation eröffnet einen Dialog mit der Arbeit Horizon, eine aus einem geographischen Atlas geformte dünne Linie, die als symbolische Zeichnung die Grundidee des Horizonts in Frage stellt. Wo endet der Horizont, welche territorialen Grenzen bezeichnet er.
Im Eingangsbereich sind auf einem Monitor zwei Filme zu sehen. Die ersten Einstellungen des Films Rite of Spring zeigen Wolken von Pappelflaum, die der Wind durch die Straßen weht. Innerhalb von Sekunden werden die Samenfasern vom Feuer verzehrt. Der Grund für die auf den ersten Blick mysteriöse Entzündung sind Kinder, die den Pappelflaum aus Spaß in Brand setzen. Die Kinder sind ganz in ihr Tun versunken, fasziniert von der Flüchtigkeit der Flammen. Kinder, die Wolken weißen Pappelflaums verbrennen: eine schlichte und poetische Geste, die ein Versprechen impliziert – das Versprechen einer Erneuerung. Die Funken und kleinen Feuer im Film wirken wie der Katalysator für einen Wandel der bestehenden Systeme. Sie gemahnen an die Lichtermeere, die in den letzten Jahren an vielen Orten entzündet wurden – an die Szenen, die auf die Hoffnung auf eine gerechtere Welt verweisen.
Der zweite Film ist vor der Kulisse der ehemaligen Waffenfabrik in Dudeşti, Bukarest, entstanden. In Prăpădenia pământului II wird dieser Schauplatz zum Zeugen einfacher Handlungen und künstlerischer Interventionen. Das verfallene frühere Industriegebäude ist heute bedeckt von wuchernder Vegetation und diese Landschaft symbolisiert gleichzeitig die mit Fortschritt und Industrialisierung einhergehende Aggressivität gegen die Natur, wie auch die Zerstörung der wirtschaftlichen und industriellen Infrastruktur in der postsozialistischen Ära. Er konfrontiert uns mit einem Ort, der nahezu frei ist von Identität – und damit frei von Erinnerung, wie in einer radikalen Aufhebung von Geschichte. Er wird zum Schauplatz ephemerer Interventionen, für die Mona Vătămanu & Florin Tudor Brotteig als Metapher für die Menschlichkeit verwenden. Sie sollen dazu beitragen, diesen Ort zu heilen und ein historisches Bewusstsein für diesen Ort zu aktivieren.
Der Film Gagarin’s Tree im mittleren Raum basiert auf einem Interview mit dem Philosophen Ovidiu Tichindeleanu und behandelt Themen wie die Erforschung des Weltraums, Imagination und Propaganda in der sozialistischen Utopie, den Zustand des Postkommunismus als liberale Kolonisation, die – laut Tichindeleanu – durch ein neues historisches Bewusstsein mit anderen Orten der Dekolonisation verbunden ist. Als Ausgangspunkt für die Reflexionen des Protagonisten dient die Instabilität gegenwärtiger Ruinen: Diese stehen für die zerstörte Zukunft unterschiedlicher Vergangenheiten, unterschiedlicher Messianismen oder unterschiedlicher Wahrnehmungen der Idee einer „historischen Destination“ über die vergangenen Jahrzehnte. Tichindeleanus Analyse kreist um die reziproke Konstruktion von Vergangenheiten und Zukünften, Konzepten von Erneuerung oder historischem Horizont, von einem zeitlichen oder örtlichen „Anderswo“. Als Kulisse für das Gespräch dient das Gagarin-Jugendzentrum in Chişinău, Moldawien, wo die meisten Aufnahmen entstanden sind. Das mittlerweile leerstehende Gebäude, das darauf wartet, einem eher dem oligarchischen Liberalismus der Gegenwart entsprechenden Bauwerk zu weichen, liest sich wie ein Palimpsest nie realisierter historischer Projektionen, als dessen Sinnbild vielleicht das riesige Mosaik am Gebäude gelten kann, das die Arbeit im Weltraum veranschaulichen soll: ein Arbeiter, der das Universum pflügt.
Ein weiterer Film ist vor der Kulisse der ehemaligen Waffenfabrik in Dudeşti, Bukarest, entstanden, und ist im hintersten Raum der Galerie zu sehen. Der Film zeigt die kollektive Nachstellung des im 18. Jahrhundert von Giandomenico Tiepolo geschaffenen Gemäldes Il Mondo Nuovo (Die Neue Welt). Schon 2004 hat das Künstler_innenpaar im Zuge des internationalen Fellowship Programms im Künstlerhaus Büchsenhausen sich in einem Video darauf bezogen und die Szene vor der Baugrube des Innsbrucker Hauptbahnhofs nachgestellt. 2016 setzt es dieses nochmals vor der Kulisse der ehemaligen Waffenfabrik um. Die Inszenierung der Performance, die sich auf die auf dem Originalgemälde abgebildete Gruppe von Menschen bezieht, basiert auf der Idee von Individuen, die Geschichte bezeugen und gleichzeitig Teil von Geschichte sind. Auf Tiepolos Gemälde versammelt sich eine Gruppe von Menschen, um die von einer „Laterna Magica“ erzeugten Bilder aus der Neuen Welt, aus Amerika, zu sehen; doch man könnte die Szene auch so interpretieren, dass die kleine Versammlung den weit entfernten, unbeständigen Horizont betrachtet, während gleichzeitig ihre eigene Welt zusammenbricht. Die Arbeit kann als Veranschaulichung von Desillusionierung und Hoffnungslosigkeit verstanden werden, eröffnet aber auch den Blick auf Möglichkeiten, den Widrigkeiten der Gegenwart durch Solidarität, gemeinsame Ideale und Gemeinschaftlichkeit entgegenzutreten.
Die Ausstellung von Mona Vătămanu & Florin Tudor zeigt die Auseinandersetzung mit Geschichte und politischen Situationen als einen Kommentar zu Ideen von Hoffnung und Utopie in der heutigen Zeit. Die Frage bleibt, was sich hinter dem Horizont befindet?
Mona Vătămanu & Florin Tudor
*1968/1974, Zusammenarbeit seit 2000;
Einzelausstellungen (Auswahl): Flying Utopia, Tranzit.sk, Bratislava, 2015; Le monde et la dette, D+T Project, Brüssel, 2015; I do not know the real story which happens there, Argos Centre for Arts and Media, Brüssel, 2014; 46°19′41″N 23°12′44″E Geamana, Galerie Andreas Huber, Wien, 2014; All that is Solid Melts into air, Extracity, Antwerpen, 2013; I dreamt the work of another artist, Kunsthalle Lissabon, 2013; Powerlessness a Situation. Revolutie, Frankfurter Kunstverein, 2013; The order of things, DAAD Galerie, Berlin, 2012; Geometric Analogies, D+T Project, Brüssel, 2012; Land Distribution, Lombard – Freid Projects, New York, 2011; All Power to the Imagination!, Secession, Grafischess Kabinett, Wien, 2009; Living Units, Project Room, Ludwig Museum, Budapest, 2003.
Ausstellungsbeteiligungen (Auswahl): Still (the) Barbarians, EVA Biennial, Limerick, 2016; Sensitive Zones, Does the map make the world? 49 Nord 6 Est, Frac Lorraine, Metz, 2016; All Men Become Sisters, Muzeum Sztuki ms2, Lodz, 2015; Ortstermin mit Leoni Wirth, Kunsthaus Dresden, 2015; What is to come has already arrived, MUSAC, Museo de Arte Contemporaneo de Castilla y Leon, 2015; A Luxury We Cannot Afford, Para Site, Hong Kong, 2015; Social Factory, 10th Shanghai Biennale, Power Station of Art, Shanghai, 2014; A History, Centre Pompidou, Paris, 2014; Something in Space Escapes Our Attempts at Surveying, Württembergischer Kunstverein Stuttgart, 2014; How to disappear completely, Kunstpavillon, Innsbruck, 2014; Report on the Construction of a Spaceship Module, New Museum, New York, 2014; Sights and Sounds, Global Film and Video, The Jewish Museum, New York, 2014; Videonale.14, Kunstmuseum Bonn, 2013; eva International Biennial of Visual Art – After the Future, Limerick City, 2012; Untitled, 12th Istanbul Biennial, 2011; Call the Witness, Roma Pavilion Collateral Event, 54th Venice Biennale, Venedig, 2011.